Diesen Beitrag habe ich ursprünglich für queer.de geschrieben. Die Redaktion hatte zunächst Bedenken, ein Interview mit Chris/Nadia Brönimann zu führen – man wollte C/N keine Plattform bieten. Ich konnte die Bedenken nachvollziehen, war aber überzeugt, dass die Story wichtig und relevant ist. Nach einem Gespräch mit Chefredakteur Micha Schulze erhielt ich schließlich grünes Licht.
Nach einer Korrekturrunde und der finalen Einreichung des Beitrags herrschte jedoch Funkstille. Ich habe nie wieder etwas von queer.de gehört. Der Beitrag hätte mit 50 Euro vergütet werden sollen.
Seit 2021 schrieb ich in unregelmässigen Abständen für das deutsche Medium.
Es ist enttäuschend, dass ausgerechnet ein Medium, das sich auf LGBTIQ-Themen spezialisiert, so mit freien Mitarbeitenden umgeht. Gerade in einer Branche, die zunehmend prekär wird, hätte ich mir mehr Professionalität und Respekt erwartet.
Ich habe mich dazu entschlossen, den Beitrag hier auf meiner Website zu veröffentlichen.
Interview mit Chris/Nadia Brönimann, Ende August 2024
Chris/Nadia Brönimann ist eine der bekanntesten trans Personen der Schweiz und eine der ersten medialisierten Geschichten. Mitte August postete Chris/Nadia ein Bild von sich auf Instagram mit neuer Frisur und dem Hashtag #detrans, woraufhin Interviews in zahlreichen Schweizer Medien folgten. „Nadia wolle zurück zu ihrem alten Ich“, titelten die Medien. Die meisten Artikel framten Chris/Nadias erneutes Coming-out als eine vereinfachte Reise von männlich zu weiblich und jetzt wieder zurück. Wir sprachen mit Chris/Nadia über ihr erneutes Coming-out und ihre umstrittenen Haltungen zu Transitionen.
Die Sonntagszeitung titelte „Die bekannteste trans Frau der Schweiz will zurück zu ihrem alten Ich“. Doch so einfach sei das nicht, sagt Chris/Nadia. „Ich habe mir selbst über Jahre ein Korsett aufgelegt, das für mich so nicht mehr stimmte. Viele Leute kommen auf mich zu und sagen: So, nun bist du also wieder Christian, der Mann und das stimmt für mich nicht. Ich habe jetzt 30 Jahre als Nadia, als trans Frau gelebt, mir wurde das zu eng, es passte für mich nicht mehr. Ich habe Lust zu entdecken, was zwischen den binären Polen liegt.“
Wer ist Chris/Nadia Brönimann?
Chris/Nadia wurde 1969 in Memmingen, Deutschland, geboren und wuchs im appenzellischen Heiden, Schweiz auf. In den 2000er Jahren erlangte C/N mediale Bekanntheit. Ein Dokumentarfilm von Alain Godet, produziert vom Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) und 2004 ausgestrahlt, begleitete damals Nadia über acht Jahre hinweg während und nach der Transition. Aus heutiger Sicht lässt sich die Dokumentation in vielerlei Hinsicht kritisieren, da sie einen pathologisierenden Blick auf den Prozess der Transition wirft. Dennoch war der Film damals ein Novum und stellte einen Meilenstein für die Sichtbarkeit von trans Menschen dar, indem er ein wichtiges Zeugnis des gesellschaftlichen Umgangs mit Transidentitäten lieferte.
Detrans ist Chris/Nadias neuer Fokus
C/N äußerte sich in der Vergangenheit mehrmals, dass C/N die operativen geschlechtlichen Angleichungen heute nicht mehr machen würde. Heute teilt Chris/Nadia viele Inhalte von fragwürdigen Kanälen und Medien. Darunter umstrittene Posts von transfreindlichen Accounts. Aber auch einen offenen Brief der Rechtsaußen angesiedelten Weltwoche: «Sie möchten wieder sein, was sie vor 26 Jahren waren, nämlich der Mann Christian.» C/N teilte es und bedankte sich. Im Gespräch mit uns sagt C/N, dass es kein Zurück gebe, es gehe C/N darum zwischen den binären Polen neues zu entdecken, sich von der alten Repräsentation der trans Frau Nadia zu befreien. Was erhofft sich Chris/Nadia von der Annäherung an solche Medien und dem Teilen von polemischen Inhalten? Verständnis von Rechtsaußen für queere Menschen? C/N wolle Brücken schlagen zwischen „beiden Lagern“.
Chris/Nadia benutzt immer wieder umstrittene Schlagworte, unter anderem spricht C/N von «Cancel Culture» und « woken Transaktivisten» und gleichzeitig will C/N für mehr Toleranz und Akzeptanz einstehen. Ein Widerspruch. Im Interview mit dem Lokalsender TeleZüri sagt Chris/Nadia, es wäre wichtig, sich von Extremen zu verabschieden.
Forderungen nach geschlechtlicher Selbstbestimmung „zu extrem“?
Anliegen von queeren Menschen werden in transfreindlichen Diskursen als „extrem“ und „intensiv fordernd“ dargestellt. Eine Strategie, um diese zu delegitiemieren und politische Verbesserungen auf die lange Bank zu schieben, bestes Beispiel: Das deutsche Selbstbestimmungsgesetz. Wer heute über trans Menschen oder gar Detransitionen berichten wolle, werde anschließend massiv über mehrere Wochen kritisiert und eingeschüchtert, so Chris/Nadia.
In den meisten Fällen wird über trans Menschen berichtet statt von ihnen
Die mediale Realität ist komplexer. Je polemischer die Schlagzeile, desto mehr Aufmerksamkeit und Klicks generiert sie. Das bekannte Clickbait-Prinzip. Unter Medienleuten herrsche eine Angst gecancelt zu werden, meint C/N, sie würden sich nicht an das Thema wagen. In Wahrheit nahm die Berichterstattung über trans Menschen in den vergangenen Jahren enorm zu. Dies belegen mehrere Studien. Häufig wird über trans Menschen berichtet, ohne sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Eine Tendenz, die im gesamten deutschsprachigen Raum seit längerem von Verbänden kritisiert wird.
In einem offenen Brief kritisieren mehrere Schweizer LGBTIQ-Verbände und Organisationen, von Juso über Transgender Network Switzerland bis zur Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein, das Vorgehen großer Schweizer Medienhäuser.
«Die wiederholte Fokussierung der Schweizer Medienlandschaft auf Themen wie Detransitioning, basierend auf fragwürdigen Studien und wissenschaftlich umstrittenen Methoden, verstärkt ein gefährliches Narrativ, dass Zweifel an der Legitimität und Notwendigkeit von Transidentitäten und -erfahrungen sät. Es ist wichtig zu betonen, dass trans Personen ihre medizinischen Behandlungen weit weniger bereuen als beispielsweise Patienten von Knieoperationen (Dhejne et al., 2014), (Lau et al., 2012), (Von Keudell et al., 2014), (Dunbar & Richardson, 2013). Forschung zeigt zudem, dass Unterstützung und Anerkennung für trans Personen von entscheidender Bedeutung für ihr Wohlergehen sind. (Veenhoven & Veenhoven, 2022; Chen et al., 2023).“
Eine sehr kleine Minderheit der trans Menschen retransitioniert
Das sieht C/N anders, Detransition sei ein zu wenig beleuchtetes Thema und Jugendliche würden teilweise zu früh in eine Transition begleitet. Chris/Nadia warb immer für mehr Verständnis für trans Menschen, heute kritisiert C/N den Umgang von Fachpersonen mit Transitionen und meint, es werde zu früh in eine Transition eingespurt. Fachpersonen kritisieren diese Vorwürfe. Wir haben David Garcia Nuñez, Leiter Innovations-Focus Geschlechtervarianz am Universitätsspital Basel (USB) gefragt. „In der Schweiz hat es schon immer sehr wenige Personen, die retransitioniert sind. Es gibt sogar solche, die re-retransitioniert sind. Ich habe diesen Menschen nie den Rücken gekehrt. Dasselbe gilt auch für viele Kolleg*innen, die ich kenne. Chris/Nadias Aussage, dass Menschen mit einem Retransitionswunsch im Stich gelassen werden, ist falsch.“
Chris/Nadias Geschichte lasse sich nicht heutigen Transitionen vergleichen, so Garcia. Es sei außerdem wichtig, Begriffe korrekt zu verwenden und präzise zu sein. „Retransition findet nur dann statt, wenn sie von einer (permanenten) medizinischen Massnahme gefolgt wird. Wechsel von Identitätslabeln (von trans Frau zu non-binär, von non-binär zu agender, etc.) sind noch keine Retransitionen. Das «momentane» Stoppen von Hormonen auch nicht.“
Fachpersonen, Verbände und Organisationen weisen immer wieder darauf hin, dass nicht trans Personen das Problem sind, sondern die gesellschaftlichen Strukturen und der entsprechende Druck auf nicht-binäre und trans Menschen. Der Wunsch ein Passing zu erreichen, absolut nachvollziehbar. Es brauche mehr Information und nicht weniger und vor allem Informationen von vertraulichen, sachlichen Quellen, Fachstellen, die sich mit dem Thema sensibel und seriös auseinandersetzen. Von betroffenen Menschen selbst. Polemische Mediendiskurse zählen nicht dazu. Es ist fraglich, ob es C/N gelingt, einen Dialog herzustellen, indem polemische Begriffe eingesetzt werden. Wohl eher nicht.
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